Guter Kapitalismus, schlechter Kapitalismus

Nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 ging man vielerorts davon aus, dass der „Kapitalismus“ den Kalten Krieg der Ideologien gewonnen und der „Kommunismus“ verloren hatte. Aber obwohl der „Kapitalismus“ – definiert als ein auf Privateigentum basierendes Wirtschaftssystem –  klar die Oberhand behielt, gibt es in den beinahe 200 Ländern, die ihn heute in irgendeiner Form praktizieren, zahlreiche Unterschiede.

In unseren Augen ist es sinnvoll, die kapitalistischen Ökonomien in vier weit gefasste Kategorien einzuteilen. Obwohl viele dieser Ökonomien Elemente mehrerer Kategorien aufweisen, fallen die meisten jedoch hauptsächlich in eine dieser Gruppen. Die folgende Typologie trägt zur Erklärung bei, warum manche Ökonomien schneller wachsen als andere.

Der oligarchische Kapitalismus herrscht dort vor, wo Macht und Geld auf wenige konzentriert sind. Dabei handelt es sich um die schlimmste Form des Kapitalismus und zwar nicht nur aufgrund der extremen Ungleichheiten hinsichtlich Einkommen und Reichtum, die eine derartige Wirtschaft toleriert, sondern auch, weil die Eliten Wachstum nicht als das oberste Ziel der Wirtschaftspolitik betrachten.  Stattdessen legen die Oligarchen die Regeln fest, um ihr eigenes Einkommen und ihren Reichtum zu maximieren. Derartige Strukturen herrschen in großen Teilen Lateinamerikas vor, im arabischen Nahen Osten und in Afrika.

Der staatlich gelenkte Kapitalismus ist eine Form der Ökonomie, in der Wachstum das zentrale Ziel ist (wie in den beiden weiteren Kapitalismusarten), wobei man jedoch versucht, dieses Ziel durch die Bevorzugung spezieller Unternehmen oder Branchen zu erreichen. Der Staat vergibt Kredite (durch direkte Eigentümerschaft an Banken oder durch gelenkte Kreditvergaben bei privaten Banken), stellt direkte Subventionen und/oder steuerliche Anreize zur Verfügung, gewährt handelspolitische Schutzmaßnahmen oder ergreift andere regulative Maßnahmen, um die „Gewinner“ auszusuchen.

Die Ökonomien Südostasiens waren mit dieser staatlichen Lenkung sehr erfolgreich und bis in die späten 1990er Jahre gab es auch in den Vereinigten Staaten Rufe, dieses System nachzuahmen. Allerdings weist diese staatliche Lenkung eine Achillesferse auf: Wenn diese Ökonomien nämlich die „Transformationskurve” erreichen, gehen den politischen Entscheidungsträgern Branchen und Technologien aus, die man kopieren könnte. Wenn nun nicht die Märkte, sondern Regierungsbeauftragte zu entscheiden versuchen, wer der nächste Gewinner sein soll, besteht die große Gefahr, die falschen Branchen zu wählen oder zu viele Investitionen – und damit überschüssige Kapazitäten – in bereits bestehende Sektoren zu lenken. Eine derartige Tendenz trug in signifikanter Weise zur Finanzkrise in Asien in den Jahren 1997 und 1998 bei. 

Der Kapitalismus der Großunternehmen oder Führungskapitalismus kennzeichnet Ökonomien, in denen Großunternehmen -   oft als „National Champions” bezeichnet – die Bereiche Produktion und Beschäftigung beherrschen. Kleinere Firmen sind zwar vorhanden, diese verfügen aber oft nur über einen oder wenige Mitarbeiter und sind hauptsächlich im Einzelhandel oder in der Dienstleistungsbranche angesiedelt. Die Unternehmen wachsen durch die Ausnutzung von Skalenvorteilen sowie durch die Weiterentwicklung und Massenproduktion radikaler Innovationen, die von kreativen Unternehmern (siehe nächste Kategorie) entwickelt wurden. Die Ökonomien Westeuropas und Japan sind die herausragenden Beispiele eines derartigen Führungskapitalismus, der ebenso wie der staatlich gelenkte Kapitalismus zu starker Wirtschaftsleistung führt.

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Aber auch der Kapitalismus der Großunternehmen hat seine Achillesferse. Bürokratisch organisierte Unternehmen reagieren typischerweise allergisch auf große Risiken – also auf die Entwicklung und kommerzielle Verwertung radikaler Innovationen, die die Transformationskurve nach außen verschieben und große nachhaltige Schritte in der Produktivität und damit auch beim Wirtschaftswachstum ermöglichen.

Großunternehmen sind relativ risikoscheu. Dies nicht nur, weil es sich bei ihnen eben um Bürokratien handelt, wo jede Innovation in den verschiedenen Managementebenen abgesegnet werden muss, sondern auch,  weil man zögert, jene Innovationen zu fördern, die aktuelle Produkte oder Dienstleistungen, mit denen man die Gewinne einfährt,  bedrohen. Aus unserer Sicht erklären diese Grenzen des Führungskapitalismus, warum sowohl Westeuropa als auch Japan, obwohl sie in den späten 1980er Jahren mit den USA im Bereich Pro-Kopf-Einkommen gleichgezogen hatten, den Anschluss an Amerikas Produktivitätssteigerungen auf Grundlage der Informationstechnologie in den 1990er Jahren nicht schafften. 

Das führt uns zur vierten Kategorie, dem Kapitalismus der innovativen Unternehmer. In Ökonomien, wo die Dynamik aufgrund neuer Firmen entsteht, herrscht eine Tradition der kommerziellen Verwertung radikaler Innovationen, die die Transformationskurve immer weiter nach außen verschieben. Zu den Beispielen der letzten zwei Jahrhunderte zählen so richtungsweisende Produkte und Innovationen wie Eisenbahnen, Autos und Flugzeuge, Telegrafie, Telefone, Radio und Fernsehen, Klimatisierung und, wie schon erwähnt, die verschiedenen für die Revolution im Bereich IT verantwortlichen Technologien, zu denen Großrechner und PCs ebenso gehören wie Router und andere Hardware und ein Großteil der entsprechenden Software. 

Natürlich kann keine Ökonomie ihre Potenzial nur auf Basis der Firmen innovativer Unternehmensgründer ausschöpfen. Die optimale Mischung enthält neben neueren Firmen auch ein vernünftiges Maß an Großunternehmen, die über die finanziellen und personellen Möglichkeiten verfügen, um radikale Innovationen weiterzuentwickeln und in Massen zu produzieren.

So ermöglichte beispielsweise erst Boeing die kommerzielle Verwertung der Ideen der Gebrüder Wright oder Ford und General Motors die Massenproduktion des Automobils. Aber ohne innovative Unternehmer wären wenige dieser wirklich bahnbrechenden Innovationen, die unsere moderne Ökonomie und unser Leben gestalten, auch tatsächlich vorhanden.

Die Herausforderung für alle Ökonomien, die nach einer Maximierung ihres Wachstumspotenzials trachten, ist daher die richtige Mischung aus Führungskapitalismus und dem Kapitalismus innovativer Unternehmer zu finden. Ökonomien, wo innovatives Unternehmertum floriert, dürfen nicht selbstgefällig werden. Staatlich gelenkte Ökonomien können ihren Weg des raschen Wachstums fortsetzen, aber letztlich werden auch sie einen Wandel in Richtung einer entsprechenden Mischung aus den beiden Formen des „guten Kapitalismus“ durchmachen müssen, wenn sie dieses rasche Wachstum aufrecht erhalten wollen.

Indien und China bewegen sich – jeweils auf ihre eigene Art – bereits in diese Richtung. Vor der größten Herausforderung stehen Ökonomien mit oligarchischem Kapitalismus. Es könnte nicht weniger als einer – idealerweise friedlichen – Revolution bedürfen, um die in diesen Ökonomien und Gesellschaften herrschenden Eliten auszuwechseln, die Wachstum nicht als zentrales Ziel in einer Volkswirtschaft betrachten.

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