Entwickelt sich Amerika zur sozialen Demokratie?

Fast alle Industrieländer betrachten sich selbst als – und sind – soziale Demokratien: Mischwirtschaften mit sehr umfangreichen Staatsapparaten, die eine große Zahl an Wohlfahrts- und Sozialversicherungsfunktionen ausüben und die Verteilung von Wohlstand und Bedarfsgütern dem Markt in weiten Teilen entziehen. Die Vereinigten Staaten sind etwas anderes. Oder vielleicht doch nicht? Was auch immer sie in der Vergangenheit gewesen sind, die USA der Zukunft werden entscheiden müssen, ob und in welchem Umfang sie eine soziale Demokratie sein wollen.

Vor langer, langer Zeit – so will es jedenfalls der Mythos – war Amerika ein Land, in dem es kaum sozialen Abstieg gab. Im Gegenteil: Vor dem Bürgerkrieg konnten Sie damit anfangen, Holzbohlen zu spalten, sich dann plötzlich ins Western Territory aufmachen, es dort im Grenzland zu etwas bringen und zuletzt als Präsident enden – wenn Ihr Name Abraham Lincoln war. In der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg konnten Sie sich eine Stelle als Arbeiter in der gewerkschaftlich organisierten Industrie sichern oder als Angestellter an die Spitze einer Verwaltungsbürokratie aufsteigen – mit sicherem Arbeitsplatz, relativ hohem Gehalt und langer, stabiler Karriereleiter.

Dies war schon immer zur Hälfte ein Mythos. Die Reise ins Western Territory war kostspielig; Planwagen waren nicht als billig. Selbst in der ersten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg fand nur einer Minderheit der Amerikaner – eine überwiegend weiße, männliche Minderheit – gut bezahlte, stabile Arbeitsplätze in großen, gewerkschaftlich organisierten Fertigungsunternehmen wie GM, GE oder AT&T.

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