posner29_Michael M. SantiagoGetty Images_trumptrial Michael M. Santiago/Getty Images

Wird Trump von der Wahl ausgeschlossen?

CHICAGO – Nachdem der Oberste Gerichtshof von Colorado Donald Trump von den Vorwahlen für die Präsidentschaftswahl 2024 ausgeschlossen hat, wird der US Supreme Court diese Woche über Trumps Einspruch gegen diese Entscheidung verhandeln. Das Gericht in Colorado begründete seine Entscheidung mit Abschnitt 3 des 14. Zusatzartikels der US-Verfassung, nachdem niemand ein Amt im Dienst der Vereinigten Staaten oder eines einzelnen Staates ausüben darf, der, nachdem er auf die Einhaltung der Verfassung vereidigt wurde, an einem Aufstand beteiligt war. Fast jeder Beobachter auf der politischen Linken oder Rechten hat bereits entschieden, dass dieses Urteil offensichtlich richtig bzw. offensichtlich falsch ist. In Wirklichkeit sind jedoch weder die Rechtslage noch die Fakten eindeutig, sodass die Richter des Supreme Court hier mehr denn je ihre ganze politische Klugheit aufweisen müssen.

Fangen wir mit der Frage an, ob Trump an einem „Aufstand“ beteiligt war, dem klangvollen, aber auch schwammigen Kern dieser Klausel. Manche meinen, dies sei der Fall, weil er den Mob, der am 6. Januar 2021 das Kapitol gestürmt hat, um zu verhindern, dass der US-Kongress die Wahlergebnisse bestätigt, orchestriert hat. Nach einer anderen Interpretation hat Trump den Aufstand zumindest unterstützt und begünstigt, weil er keine zusätzlichen Kräfte zu seiner Bekämpfung angefordert und seine Unterstützer erst Stunden später nach Hause geschickt hat.

Allerdings hat er nicht eindeutig zu Gewalt aufgerufen („fight like hell“ ist in der amerikanischen Umgangssprache ein allzu abgedroschene Phrase) und wahrscheinlich auch nicht erwartet, dass die für den Schutz des Kapitols zuständigen Polizisten einfach überrannt werden würden. Außerdem kann der Präsident seine Exekutivgewalt normalerweise nach eigenem Ermessen einsetzen. Es wäre sehr ungewöhnlich, käme ein Gericht zu dem Urteil, der Präsident habe nicht durch sein Handeln, sondern durch seine Untätigkeit gegen die Verfassung verstoßen.

Die erste Instanz, die den Fall in Colorado verhandelt hatte, kam zu dem Schluss, Abschnitt 3 gelte nicht ausdrücklich für den Präsidenten. Er gelte für die Wahlmänner des Präsidenten, weil seine Verfasser den Wahlmännern bei der Wahl des Präsidenten vertrauten, jedoch nicht unbedingt den Bürgern bei der Wahl der Wahlmänner – eine Ansicht, die man auch bei den amerikanischen Gründervätern findet. Manche Kritiker haben sich über diese Argumentation lustig gemacht und darauf hingewiesen, dass dieser Abschnitt auch für jeden gilt, der „ein Amt im Dienste der Vereinigten Staaten bekleidet“, was zweifellos auf den Präsidenten zutrifft. Allerdings machen andere Verfassungsartikel, und zahllose richterliche Entscheidungen, einen klaren Unterschied zwischen dem Präsidenten anderen US-Amtsträgern.

Angesichts derart gegensätzlicher Argumentationsstränge, die sich auf die Unwägbarkeit verloren gegangener Begriffe und Bedeutungsnuancen stützen, kann der Supreme Court mit Hilfe der eng gefassten legalistischen Analyse, die Gericht so gerne nutzen, in diesem Fall kein überzeugendes Urteil sprechen. Wie bisher in fast jedem wichtigen Fall müssen die Richter auch hier die Werte der Verfassung, politische Fragen und das öffentliche Wohl gegeneinander abwägen und dabei auch die mögliche Gegenreaktion der Öffentlichkeit in Zeiten abwägen, in denen die öffentliche Unterstützung des Gerichtshofs schwindet.

Um das Gericht vor dem Vorwurf der Parteilichkeit zu schützen, wird der Vorsitzende Richter John Roberts deshalb wohl wieder eine einstimme Entscheidung anstreben. Die übliche Methode, um Einstimmigkeit zu erreichen, sind Urteile auf der Grundlage einer möglichst engen Rechtsauslegung, in diesem Fall etwa der Interpretation, der Präsident habe kein „Amt im Dienst der Vereinigten Staaten“ im Sinne von Abschnitt 3. Damit bliebe die Klausel für andere Regierungsvertreter gültig und das Gericht müsste zu der explosiven politischen Frage, ob Trump an einem Aufstand teilgenommen hat, erst gar nicht Stellung beziehen.

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Oder das Gericht könnte dem Urteil im Fall Griffin aus dem Jahr 1869 folgen und argumentieren, dieser Absatz erlaube es dem Kongress, Personen von einem Regierungsamt auszuschließen, zwinge ihn jedoch nicht dazu. Im Jahr 1870 hat der Kongress diese Theorie indirekt bestätigt, indem er nur solche Amtsträger entfernte, die versuchten, die staatliche Neuordnung in den Südstaaten zu behindern. Allerdings dürften sich die drei liberalen Richter kaum auf ein solches Vorgehen einlassen. Deshalb ist es nicht undenkbar, dass Roberts versuchen wird, ein einstimmiges Urteil gegen Trump zustande zu bringen.

Ein eng gefasstes Urteil gegen Trump könnte lauten, Bundesgerichte dürften sich nicht in die Verfahren einmischen, mit denen Bundesstaaten die Zusammenstellung von Wahllisten regeln, sofern deren Gerichte die US-Verfassung in gutem Glauben auslegen. Das wäre vermutlich das Ende seiner Wahlkampagne, weil Trump in 50 Bundesstaaten in einen Rechtsstreit verwickelt und in wichtigen Staaten womöglich von den Wahllisten gestrichen würde.

Aber werden sich die von den Republikanern eingesetzten Richter wirklich gegen Trump stellen? Unmöglich ist das nicht. Immerhin sind sie keine populistischen Rebellen, sondern Vertreter des Establishments, und wenn es nicht um eine allgemeine republikanische Agenda, sondern um Fälle geht, in denen Trump nur eigene persönliche und politische Interessen verfolgt, haben sie sich im gegenüber nie besonders loyal gezeigt. Es spricht Bände, dass Trump das Gericht nach einer Entscheidung gegen ihn als „nichts anderes als eine politische Instanz“ beschimpft hat. Die Richter wären ihn sicher gerne los.

Und die konservativen Richter teilen womöglich die weit verbreitete Überzeugung, jeder andere Republikaner hätte bessere Chancen, Joe Biden zu besiegen, als Trump. Eine Entscheidung gegen Trump würde den Weg für einen seriöseren Kandidaten freimachen und das Gericht auf die Seite der Mehrzahl der Amerikaner bringen, die findet, Trump sollte von den Wahlen ausgeschlossen werden. Außerdem können sich die Konservativen am US-Supreme Court darauf verlassen, dass ihnen viele Republikaner immer noch dankbar sind, weil sie 2022 das Recht auf Abtreibung abgeschafft haben.

Trotzdem würden rechte Rädelsführer das Oberste Gericht nach einem solche Urteilwohl trotzdem voller Begeisterung zerfleischen, das überdies weder links noch rechts viele Verbündete hat. Weil die Konsequenzen völlig unabsehbar sind und die Spaltung des Landes vertiefen und sogar gewaltsame Unruhen auslösen könnten, ist es schwer vorstellbar, dass sich die Richter auf ein einstimmiges Urteil einigen werden.

Als ein möglicher Ausweg könnte der Supreme Court einige der juristischen Fragen klären, etwa die korrekte Definition von „Aufstand“, und einen Sonderbeauftragten oder eine Kommission damit beauftragen, in einem Schnellverfahren die Fakten zu ermitteln und dem Gericht vorzulegen. Das Gericht in Colorado hat zwar in einer kurzen Anhörung bereits Zeugen gehört, wie der Bericht über die Tatsachenfeststellung zeigt jedoch nur eine knappe Faktenrecherche durchgeführt. Eine Anhörung vor einer Kommission aus Bundesrichtern, die das Rentenalter erreicht haben oder bereits in Pension sind, böte der Öffentlichkeit die Gelegenheit, in einem weniger parteiischen Umfeld als dem Kongressausschuss zum 6. Januar zu erfahren, was am 6. Januar 2021 wirklich vorgefallen ist.

Dieses Verfahren wäre eine Neuauflage der Wahlkommission von 1877, mit deren Hilfe die umstrittene Wahl zwischen Rutherford B. Hayes und Samuel Tilden entschieden wurde. Die wurde zwar nicht vom Supreme Court, sondern vom Kongress ernannt, aber auch der Oberste Gerichtshof hat bereits Sonderbeauftragte und Kommissionen eingesetzt (wenn auch unter anderen Umständen). Er hätte auf jeden Fall die für diesen Schritt nötige Autorität.

Der Regierung vertrauen die Amerikaner nicht mehr. Aber sie haben einen Rest von Vertrauen in die Justiz mit ihren eindrucksvollen Formeln und Verfahren. Ein reguläres Verfahren (das im Idealfall im Fernsehen übertragen wird, obwohl auch das einen Richtungswechsel erfordern würde) könnte endlich Klarheit bringen.

https://prosyn.org/Iq0hfZBde