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Israel muss den Gaza-Krieg beenden

WASHINGTON, DC – Der Beschuss Israels mit über 300 Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern aus dem Iran ließ den Krieg zwischen den beiden Ländern nun aus dem Schatten heraustreten. Zusammen mit dem US-Militär und anderen Partnern gelang es den israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF) 99 Prozent der Geschosse abzufangen.

Das israelische Militär hat abermals seine herausragenden Fähigkeiten unter Beweis gestellt, doch die Unterstützung der USA war unerlässlich. Israel ist zwar stolz darauf, sich selbst verteidigen zu können, doch die Umstände haben sich geändert. Angesichts der Tatsache, dass Israel - wie die IDF einräumen – an sieben Fronten bedroht wird, war es wichtig, dem Land Unterstützung zukommen zu lassen. Und die Israelis sollten erkennen, wie wertvoll es ist, Teil einer Koalition zu sein, wenn man sich dem Iran, seinen Stellvertretern und deren russischen Unterstützern gegenübersieht.

Zumindest sollte der iranische Angriff die Israelis daran erinnern, dass sie ihren Krieg gegen die Hamas nicht in einem internationalen Vakuum führen und dass es auf Unterstützung von außen ankommt. Dieser Krieg geht nun in den siebten Monat. In taktischer Hinsicht ist Israel erfolgreich. Man hat die militärische Infrastruktur der Hamas zerschlagen und sie als organisierte Kampftruppe zerstört: 19 von 24 Hamas-Bataillonen bestehen nicht mehr.

Das ist eine beachtliche Leistung. Bedauerlicherweise hat dieser taktische Erfolg einen hohen Tribut hinsichtlich der palästinensischen Zivilbevölkerung und des internationalen Ansehens Israels gefordert. Während Israel also militärisch erfolgreich sein mag, verliert es politisch.

Das berühmte Diktum von Clausewitz, wonach „Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ sei, scheint keine Richtschnur für Israels Strategie zu sein. Ja, die Hamas hat Israel diesen Krieg aufgezwungen, und ja, die Hamas stellte eine beispiellose militärische Herausforderung dar, da sie sich in hunderte Kilometer langen Tunneln unter der Zivilbevölkerung des Gazastreifens verschanzt hat. Dennoch brauchte Israel eine Strategie, die es erlaubte, die Hamas militärisch zu besiegen ohne dabei die Sympathien der Welt zu verlieren. Eine Militärkampagne mit dem Ziel, die Bedrohung durch die Hamas auszuschalten und sie von der Macht zu entfernen, beruhte auf einer zentralen Prämisse: Um die für eine Niederschlagung der Hamas erforderliche Zeit und den notwendigen politischen Spielraum zu haben, muss Israel die humanitären Bedürfnisse der Menschen im Gazastreifen erfüllen und ihr Leiden auf ein Minimum reduzieren.

Es mag keine Möglichkeit gegeben haben, dem grausamen Dilemma zu entgehen, in dem sich Israel befand: wie es sich nämlich bewerkstelligen ließe, die Hamas als militärische Kraft zu besiegen, ohne den Tod einer fürchterlich hohen Zahl an Palästinensern in Kauf zu nehmen. In den ersten zwei Wochen nach dem 7. Oktober, als Israel eine massive Bombenoffensive startete, bestanden jedoch praktikable Möglichkeiten, humanitäre Korridore für Evakuierungen vom nördlichen in den südlichen Gazastreifen zu schaffen. Danach war es für Israel unabdingbar, humanitäre Hilfslieferungen sicherzustellen, um den Bedarf der Palästinenser an Unterkünften, Lebensmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung zu decken. Und wenn die Hamas versuchte, diese Hilfe umzuleiten, was sie auch tat, hatte Israel die Pflicht, dies zu verhindern und die Verteilung der Hilfe zu gewährleisten.

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Dabei handelte es sich nicht nur um eine moralische Verpflichtung, sondern auch um ein strategisches Gebot, damit die internationale Gemeinschaft nicht zu dem Schluss gelangen konnte, dass Israel dem Leiden der Palästinenser gleichgültig gegenüberstand. Und dennoch hat sich genau dieser Eindruck verfestigt, mit dem Ergebnis, dass Israel nun allein für die Beendigung des Krieges verantwortlich gemacht wird. Es wird so getan, als trage die Hamas keine Verantwortung, wenn festgestellt wird, die Hamas-Führer hätten von den Vereinigten Staaten und der internationalen Gemeinschaft unter Druck gesetzt werden müssen, den Gazastreifen zu verlassen, um die Allgemeinheit zu schonen. Für zu viele Menschen stellte sich der jüngste israelische Luftangriff, bei dem eine Gruppe von Mitarbeitenden der World Central Kitchen getötet wurde, nicht als tragischer Unfall dar, sondern als Ergebnis einer Kampagne, im Rahmen derer allzu oft die Tendenz besteht, militärische Ziele ohne Rücksicht auf die Folgen für die Palästinenser anzugreifen.

Einige Wochen nach Beginn des Krieges schrieb ich, dass ich einen Waffenstillstand nicht befürworte, weil man damit der Hamas ermöglichen würde, zu überleben, sich neu zu formieren und einen weiteren 7. Oktober zu versuchen. Wer sagte, Israel solle lediglich begrenzt und gezielt reagieren, hatte nicht begriffen, dass die Wahrnehmung, die Hamas sei mit ihrem fürchterlichen Schlag gegen Israel durchgekommen, deren Ideologie des „Widerstands” (und ihr Bekenntnis zur Zerstörung Israels) im gesamten Nahen Osten mit enormer Glaubwürdigkeit ausgestattet hätte.

Unabhängig davon brauchte Israel trotzdem eine Strategie, die nicht nur das humanitäre Leid auf ein Minimum begrenzte, sondern auch mit einem klaren und erreichbaren Ziel verbunden war. Schlechte Staatsführung ist stets mit Zielen verbunden, die entweder nicht erreicht werden können oder so formuliert sind, dass Unterstützung für sie unmöglich ist. Die Auslöschung der Hamas war nie in Sicht, ebenso wenig wie die Vernichtung des IS durch die USA. Die Rettung der überwiegenden Mehrheit der israelischen Geiseln, die seit dem 7. Oktober von der Hamas festgehalten werden, war mit militärischen Mitteln niemals möglich.

Sehr wohl möglich war jedoch die dauerhafte Entmilitarisierung des Gazastreifens, so dass er nie wieder eine Plattform für Angriffe auf Israel bieten konnte. Das ist immer noch so, und diese Entmilitarisierung hat Israels strategisches Ziel zu sein. In den Gesprächen mit Premierminister Benjamin Netanjahu und dessen Kriegskabinett sollte sich die Regierung von US-Präsident Joe Biden nicht nur darauf konzentrieren, wie mit den verbleibenden vier Hamas-Bataillonen umzugehen sei, sondern auch darauf, eine Einigung darüber herzustellen, wie weit man zu gehen hat, um eine Entmilitarisierung zu erzielen. In Wirklichkeit ist Israel nicht weit davon entfernt, einen Sieg zu verkünden, den Krieg zu beenden und seine Geiseln noch lebend zurückzubekommen.

Israel sollte seine Definition einer ausreichenden Entmilitarisierung an die Schaffung von Mechanismen knüpfen, anhand derer die USA, die europäischen Geber und die arabischen Staaten sicherstellen, dass alle in den Gazastreifen gelangenden Hilfsgüter von der Einfuhr über die Lagerung bis zur letztendlichen Nutzung überwacht werden. Israel kann die gesamte Wiederaufbauhilfe (im Gegensatz zur humanitären Hilfe) davon abhängig machen, dass die Hamas nicht an der Macht ist - andernfalls würde niemand in den Wiederaufbau investieren  - und dass die Überwachungsmechanismen glaubwürdig funktionieren.

Um zu gewährleisten, dass die Hamas nie wieder an die Macht zurückkehrt, bedarf es in Gaza einer palästinensischen Alternative. Die Palästinensische Autonomiebehörde ist zu schwach und zu korrupt, um diese Rolle zeitnah zu übernehmen. Sobald sie jedoch glaubhaft reformiert und zu angemessener Regierungsführung in der Lage ist, kann und muss die Palästinensische Autonomiebehörde die Lücke füllen.

Wenn die Hamas militärisch besiegt ist, und die Bevölkerung im Gazastreifen wieder zu einem normalen Leben zurückkehren möchte, könnten die arabischen Staaten eine vorübergehende Rolle in der Verwaltung und der Gewährleistung der Sicherheit spielen. Aus meinen Gesprächen mit einer Reihe von arabischen Führern weiß ich, dass diese bereit sind, eine noch nie dagewesene Rolle in Gaza zu spielen, unter anderem durch die Entsendung von Truppen. Voraussetzung ist allerdings, dass ihr Engagement als Brücke zwischen dem Ende des Krieges und einer tragfähigen palästinensischen Alternative dient. Sie wollen nicht, dass die Hamas zurückkehrt, aber sie wollen auch nicht für immer in Gaza bleiben.

Mit Ausnahme der israelischen extremen Rechten will niemand, dass Israel im Gazastreifen feststeckt, die Verantwortung für 2,4 Millionen Palästinenser trägt und möglicherweise mit einem Aufstand rechnen muss. Nachdem man den Gazastreifen entmilitarisiert und die Voraussetzungen für eine Alternative zur Hamas geschaffen hat, kann Israel diesen Krieg bald beenden und die noch lebenden Geiseln retten.

Und das ist auch notwendig. Schlimm genug, dass 55 Prozent der amerikanischen Bevölkerung Israels Vorgehen in Gaza missbilligen. Noch schlimmer ist, dass dieser Krieg zur einem Prüfstein dafür wird, wie die nächste Generation über Israel denkt. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass der Iran erneut bewiesen hat, dass er das Problem ist, muss Israel den Krieg im Gazastreifen zu einem Ende bringen. Die militärische Niederschlagung der Hamas ermöglicht es dem Land, dies bald zu tun.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/HGvMJIude